Wer mich in meiner Wohnung besucht, ist beim ersten Anblick meiner Küche überwältigt. Doch da gibt es nicht etwa eine Menge goldene Löffel oder Glitzerstühle! Tatsächlich mag ich den eher minimalistischen Stil. Übersichtlich. Praktisch. Das ist absolut meins. Bis auf Kunst, davon kann ich nicht genug haben. Das Bild, um das es hier geht hängt direkt neben meinem Esstisch.
Es ist "Vesus in Eruption" von Joseph Mallord William Turner. Ich nenne ihn meist nur William Turner, wenn ich Freunden gegenüber von ihm schwärme. Denn er ist einer meiner absoluten Lieblingsmaler. Nehmt euch nur mal ein paar Minuten Zeit, um das Gemälde auf euch wirken zu lassen. Stellt euch vor, ihr betretet meine Wohnung. Nicht wie ein Museum; bei mir geht es ganz ungezwungen zu! Ihr könnt das Bild ruhig berühren, denn selbstverständlich ist es nicht das echte. Das hat eine Größe von etwa dreißig mal vierzig Zentimeter und hängt im Yale Center for British Art an der Yale University in New Haven, Connecticut in den USA.
Mein Vesuvausbruch von William Turner ist zwar nur ein Kunstdruck, leuchtet jedoch in genau den gleichen herbstlichen Farben, für die der englische Maler aus der Zeit der Romantik berühmt geworden ist. Er lebte von 1775 bis 1851. Sein Gemälde vom ausbrechenden Vesuv hat er wohl 1817 geschaffen. Da war William Turner etwa 42 Jahre alt. In der Mitte seines Lebens und ein Meister des Lichts.
Was also fällt euch bei der Betrachtung des Bildes zuerst auf? Ist es das helle Feuer aus glühend heißer Lava, das der Vulkan wie ein wütender Drache aus seinem Maul brüllt? Ist es nicht erschreckend und doch gleichzeitig wunderschön? Diese beinahe spürbar warme Kraft des Feuers lässt den Blick zunächst erstarren, will ihn gar nicht mehr freigeben.
Das Herz schlägt höher und schneller, beruhigt sich jedoch langsam. Bis der Blick den Berg erkennt: den mächtigen Vesuv am Golf von Neapel. William Turner war selbst dort gewesen, hat viele Skizzen angefertigt. Sich selbst ein Bild machen, nicht nur nachmalen – das war ihm wichtig. Und macht seine Bilder so authentisch, so nacherlebbar. Obwohl... einen Vesuvausbruch hat er selbst nie gesehen.
Um 1800 war der Vesuv ein äußerst aktiver Vulkan. Geologen und Vulkanforscher regten auch Turner an, sich näher mit dem faszinierenden Berg zu beschäftigen. Die dort lebenden Menschen mögen sich erinnert haben an den schrecklichen Ausbruch von 79 n.Chr., den der damals achtzehnjährige römische Senator Plinius der Jüngere aus sicherer Entfernung beobachtet und später in zwei Briefen an den römischen Historiker Tacitus detailliert beschrieben hat. Was ist, wenn der Wind wieder so ungünstig weht wie zur Zeit des jüngeren Plinius?
Im Gemälde von William Turner sind viele Menschen zu erkennen, die sich an der Küste versammelt haben. Warten sie bangend auf ihre Angehörigen, die in ihren kleinen Segelschiffen noch auf See sind? Dabei schauen sie immer wieder gebannt auf den fortwährend glühende Magma spuckenden Berg. Wieder der Blick zum Wasser: Sollen wir es wagen? Sollen wir übers Meer flüchten? Oder sind wir hier sicher?
Dieses beinahe wütende Schauspiel auf so begrenztem Raum füllt meine Küche völlig aus. Auch so manche Unterhaltung kreist darum: die Kraft der Natur; das ohnmächtige und gleichzeitig faszinierte Staunen der Menschen im Bild; die so typisch warmen Farben des Lichts von William Turner. All das erinnert mich jedes Mal daran, wie kurz, aber auch wie schön unser Leben ist. Deshalb genieße ich jeden Tag, wie er kommt. Und meinen Vesuv von William Turner gebe ich nie mehr her!
Ich gehe jetzt noch schnell mal in die Küche da mein Weinglas leer ist, und genieße beim nachschenken dieses traumhafte Bild ;)
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